Montag, 16. November 2015

38: 1 kleine Schwierkeit

Nanana. Ein wenig verwirrt, liebe Schweiz? Hat der Wahlkampf die Klarheit der Gedanken beeinträchtigt? Ist es der Jahreszeitenwechsel? Eben war es noch warm, jetzt frieren wir, und sinnbildlich dafür liegt im SPAR neben dem Weihnachtsgebäck die Haribo Goldbären-Sommeredition im Regal. Letztgenanntes Phänomen ist ja aber eigentlich nichts allzu besonderes mehr - bald wird die "Verganzjährlichung" der Saisons Tatsache sein und die Detailhändler werden die Weihnachtsmänner und die Osterhasen das ganze Jahr nebeneinander in die Auslage stellen. Wir leben ja in der Ära der Toleranz, der Postmoderne, und da käme es einem Skandal gleich, Menschen rücksichtslos zu diskriminieren, die im Sommer Christbaumkugeln in ihren Garten hängen und im Winter in diesem grillieren wollen! Aber ich schweife ab. Die Schweiz scheint mir verwirrt, sagte ich. Grund dafür ist Folgendes:

Als ich dieses Schild sah, dachte ich: 'Naja, Lidl, das steht nicht gerade für Gymnasiasten und Germanisten... Kann ja mal passieren.' Aber irgendwie schwante mir schon, dass ich es hier vielleicht doch nicht mit einem Einzelfall zu tun hatte. Und prompt stach mir dann einige Tage später dieses Inserat in die Augen:

In meinem Kopf war in diesem Moment Folgendes zu hören:

Jetzt war die Lage ernst. Die Regeln der Korpuslinguistik besagen ganz simpel und logisch: Wiederholt sich ein Phänomen in der untersuchten Textmenge mehrmals, so ist es als grundsätzlich relevant für den untersuchten Diskurs zu werten. Auf meiner neu gegründeten Facebookseite warnte ich, wenn ich in nächster Zeit noch einmal auf dieses Phänomen treffen würde, gäbe es einen Blogeintrag dazu. Und es dauerte nicht lange (Danke Céline):


Also, liebe Schweiz. Nach meinem ersten Aufschrei aufgrund einer grammatischen Vernachlässigung trete ich nun wieder in der Rolle des Deutschlehrers und pedantischen Linguisten vor dich. Wenn wir einEN unbestimmtEN Artikel im Akkusativ vor ein männliches Nomen stellen, dann flektieren wir diesen, indem wir das Suffix -en anhängen. Einfach veranschaulicht: Man trägt "EIN T-Shirt", aber "einEN Hut". Man hat "KEIN Mitleid", aber "keinEN blassen Schimmer". Soweit die Grammatik.

Ich hielt dann in meiner Neugier auch noch eine Weile lang auf Facebook die Augen offen und fand diesen Fehler in regelmässigen Abständen in den verschiedensten Threads. Und sofort wurde mir klar, dass nicht nur wir Schweizer damit kämpfen. In Deutschland scheint der Fehler sogar schon fast Kultstatus erreicht zu haben: Die Facebookseite "Nachdenkliche Sprüche mit Bilder" macht sich mit ihren Posts über die ach so tiefgründigen Statusmeldungen mancher User lustig und verwendet den Fehler nicht nur ganz gezielt als "Stilmerkmal", sondern geht sogar noch einen Schritt weiter und ersetzt den unbestimmten Artikel durch eine Zahl, weswegen man annehmen muss, dass selbst das mittlerweile zur Mode wird:


Wie konnte es nun zu dieser Mode kommen? Speziell in der Schweiz könnte als Ursache angeführt werden, dass die Flektierung im Schweizerdeutschen sehr undeutlich ist. Im Baseldeutschen ist alles "e": "I ha e Döner gässe." In Zürich gibt's immerhin noch das n dazu: "Ich han en Frosch küsst." Da kann es verständlicher scheinen, dass sich die Regeln beim einen oder anderen nicht so leicht einprägen. Der Hauptgrund dürfte aber in den Eigenschaften der Mündlichkeit liegen: Das -en ist ein Suffix, das man bei gesprochenem Hochdeutsch kaum mehr hört: "Alta, haste dir eansthaft n' Hund gökauft?"

Wenn ich ganz ehrlich bin, halte ich das ganze Genus-Gehabe im Deutschen eigentlich für ziemlich unnötig, auf Englisch geht's ja auch ohne dass man Artikel anpassen muss, nur weil mal jemand beschlossen hat, dass ein Traktor männlich sein soll, eine Tanne weiblich und ein Tablett sächlich. Vielleicht wäre es ja gar nicht so schlecht, wenn sich das 1 durchsetzen sollte (und vor allem witzig!). Leuten mit Migrationshintergrund sind unsere Artikel und Präpositionen so schleierhaft, dass sie sie oft einfach weglassen (Ich ha Kolleg troffe und mir sin Kino gange). Wir würden also auch etwas für die Integration tun.

Grundsätzlich ist aber Vorsicht geboten: Wenn man das logisch weiterdenkt, könnten wir anfangen, noch konsequenter so zu schreiben, wie wir sprechen. Das müsste sehr geregelt ablaufen, weil jeder ein wenig anders spricht und die deutsche Sprache dann zum bunten Spielplatz der unbegrenzten Möglichkeiten avancieren würde und kein interhumanes, zugänglich normiertes Kommunikationsmittel mehr wäre. Jeder dürfte die Textfelder dieser Welt als Staffelei für seinen Idiolekt betrachten, und das wäre der Kommunikation letzten Endes abträglich*. Wail wen isch dan finde, das isch so schbreche, dan kan isch schraiben wi isch wil, egal wen es jemant ferwirt. Am Ende ist es für alle am besten, wenn es allgemeingültige Regeln gibt.

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen noch 1 schöner Tag!

-Der Sprachbeschreiber

*= Im Schweizerdeutschen tun wir hingegen genau das ständig: Anhand unserer Vorstellungen, wie die Sprache klingt, verschriftlichen wir sie, jeder etwas anders. Das wäre auch mal noch ein spannendes Thema...

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