Montag, 20. Januar 2014

6: Von Vögeln und Handschuhen

Zuallererst möchte ich diese Woche ein grosses DANKESCHÖN ausrufen. Am 13.1.2014 wurden die Gedanken des Sprachbeschreibes nach ziemlich genau einem Monat im Netz bereits zum eintausendsten Mal angeklickt. Das dürften im Schnitt rund 32 Klicks pro Tag sein! Das Wissen darum, dass auch tatsächlich Leute mitlesen, wenn ich schreibe, beglückt und motiviert mich ungemein. Ihr seid grosse klasse!

So, zum Anfang möchte ich von einer kleinen Alltagsepisode berichten. Kopfschüttelnd sass ich kürzlich auf dem Sofa im Wohnzimmer bei meiner Mutter. Sie hatte "Wer wird Millionär" eingeschaltet, und der Kandidat hatte sich folgender Frage gegenüber gesehen: "Wobei handelt es sich nicht um Vögel? A Pinguine B Wellensittiche C Sträusse D Kakadus". Er hatte das Publikum gefragt, und dieses hatte sich mit grosser Mehrheit für die Pinguine entschieden, was dann auch er getan hatte. Und dann der Schock. Pinguine gelten sehr wohl als Vögel. Es handelte sich um eine fiese Fangfrage: "Sträusse" ist der Plural von "Strauss" im Sinne von "zusammengebundene oder -gestellte abgeschnittene oder gepflückte Blumen, Zweige o. Ä." (duden.de). Aus dem Strauss im Sinne von "(in den Steppen Afrikas und Vorderasiens lebender) grosser, flugunfähiger Laufvogel mit langem, nacktem Hals, kräftigem Rumpf, hohen Beinen und schwarz-weissem bis graubraunem Gefieder" (duden.de) werden im Plural die "Strausse". Das wären auch Vögel gewesen. Fies. FIES.

Nach dieser kleinen Alltagsgeschichte nun zum Hauptinhalt des dieswöchigen (Gibt's gar nicht? Mir egal.) Blogeintrags; einem kurzen Stück Literatur, das ich letztes Jahr an der Hochschule niederschrieb. Man gab uns zur Inspiration nichts weiter als ein Bild. Hier das Endprodukt dieses Projekts, nach ein paar Überarbeitungsphasen...


"Da liegt er nun, dieser Handschuh. Gelandet auf dem Boden der Tatsachen, der ihm in der Form einer Treppe am Bahnhof Winterthur begegnet ist. Sein Besitzer Hans, 61-jährig, hatte ihn aufgrund der unerwarteten Wärme, die er bei der Ankunft im herbstlichen „Winti“ festgestellt hatte, in seine Tasche stecken wollen und versehentlich sein Ziel verfehlt. Dann war der baldige Rentner eilends im Meer der Menschen verschwunden, die hier täglich ein- und ausgehen. Dieses Schauspiel, das man hier zu Stosszeiten erlebt und das manchmal kleinen Völkerwanderungen gleichzukommen scheint, ist ziemlich eindrücklich. Die Stadt boomt. Im letzten Jahrzehnt hat ihre Einwohnerzahl die 100‘000er-Marke gesprengt. Über 7000 Studenten arbeiten an den hier ansässigen ZHAW-Departementen ihren Bachelors und Masters entgegen. Die erwähnte Treppe wird sich also nicht über zu wenig "Kundschaft" beklagen können. Doch nun liegt dieser Handschuh dort, und das ist ein Problem. Immerhin verunreinigt er das reine, makellose Bild des Bahnhofs, der ja immerhin in der sauberen Schweiz liegt und gewissen Standards genügen sollte!

Bald werden also die Angestellten der Stadtreinigung vorbei kommen und sich fragen, wie mit diesem Fremdkörper umzugehen sei. Fest steht: Er muss weg. Wo kämen wir denn auch hin, wenn jeder seine Handschuhe an öffentlichen Orten herumliegen liesse? Eine Verunreinigung der Allmend liegt hier vor, und dagegen muss rigoros vorgegangen werden. Es stellt sich lediglich die Frage: Welches Extrem der Fürsorge werden die Angestellten mit ihrem Gewissen vereinbaren können? Ist es der Gang zum Mülleimer oder der zum Fundbüro? Wird das Gewissen überhaupt eingeschaltet, oder wird willkürlich entschieden? Findet das Kleidungsstück wieder zu seinem Besitzer zurück? Es wäre ihm zu wünschen, denn die Realität, mit der es nun konfrontiert worden ist, sieht so aus: Ohne seinen Besitzer, den Menschen, ist es schlicht nicht von Bedeutung. Wie gross kann diese Bedeutung, die Verehrung eines solch unspektakulären Gegenstandes, wohl überhaupt werden? Der Spielraum ist nicht zu unterschätzen, wie etwa der Österreicher Niko Alm gezeigt hat. Ihm war es als Anhänger der „Kirche des fliegenden Spaghettimonsters“ (gegründet 2005 vom US-Amerikaner B. Henderson) möglich, für sein Führerscheinfoto mit einem Pasta-Abtropfsieb auf dem Kopf abgelichtet zu werden. Einem Handschuh ist wahrscheinlich noch nie in diesem Masse Ehre zuteil geworden. Sollte sich dies nicht ändern? Ist ein Handschuh etwa weniger der Verehrung würdig als ein Nudelsieb?

Die Frage, wie innig die Beziehung zu einem unbelebten Gegenstand sein sollte, muss wohl jeder belebte Mensch für sich selbst beantworten. Bis sie für unseren Handschuh geklärt ist, dürfte es nicht mehr allzu lange dauern. Die Beziehung zu Besitzer Hans wird auf die Probe gestellt. Wird dieser nach seinem Begleiter suchen? Oder ihn kaltblütig den Stadtreinigungsleuten überlassen, die mit ihren womöglich ausländischen Händen um die vielgepriesene Sauberkeit der Schweiz besorgt sind, und ihn einfach ersetzen? Ist Ihnen aufgefallen, dass er dabei in einem Schuhgeschäft keinen Erfolg haben wird, obwohl wir hier eindeutig von einem Hand-Schuh sprechen? Ist Ihnen zudem aufgefallen, zu welchen Ausführungen das philosophisch veranlagte Hirn fähig ist, sei der Ausgangspunkt auch noch so banal? Ich wünsche Hans und seinem Handschuh alles Gute für die Zukunft."

Tja, damit ist für's Erste alles gesagt. Gehabt euch wohl.

-Der Sprachbeschreiber

P.S. Da fällt mir doch noch was ein! Falls das jemand von den Basler Verkehrsbetrieben liest: Kürzlich hatten Sie auf ihren Stationsanzeigetafeln die Meldung eingeblendet, dass die Tramlinien zum Bahnhof SBB "umgeleidet" werden müssten. Da ist Ihnen ein Fehler unterlaufen. Es müsste wenn schon "umgelitten" heissen! Etwas mehr Konsequenz bei solchen Experimenten, wenn ich bitten darf. :P