Montag, 13. Januar 2014

5: "Das seit me halt so!"

Ich mache mir oft Gedanken über "eingefrorene" Wendungen und "idiomatische Traditionen", die wir regelmässig und praktisch immer im selben Wortlaut benutzen, meist ohne daran zu denken, was wir da eigentlich sagen. Es gibt harmlose, amüsante Beispiele. Haben Sie sich zum Beispiel schon einmal die Metaphern vorgestellt, die hinter der Aussage "Schiess los, ich bin ganz Ohr" stecken? Besonders anschaulich wird's, wenn Sie solche Redewendungen Wort für Wort zu übersetzen versuchen. "Start shooting, I'm nothing but an ear." (Hier gibt's mehr davon) Wie meine Freunde wissen, mache ich mich auch gern über zumindest theoretisch falsch angewendete Modalverben lustig. Ich als Allergiker werde zum Beispiel oft gefragt: "Gäll, du dörfsch keini Nüss ässe?". Dann sage ich grinsend: "Ich dörf sehr wohl. Ich kas au. Ich machs eifach nid so gärn." Und wenn man mich fragt, ob ich darüber informieren könne, wieviel Uhr es sei, dann denke ich mir jedes Mal, dass die korrekte Antwort darauf eigentlich aus nichts weiter als "Ja" bestehen würde. Das ist allerdings ein Spezialfall: Wir empfinden es bei sozialer Distanz als höflicher, wenn man Dinge indirekt anspricht. Kein zivilisierter Mensch würde auf einen Fremden zugehen und sagen: "Sagen Sie mir die Uhrzeit!". Andere Beispiele: Wussten Sie, dass "Sinn machen" direkt aus dem Englischen übernommen wurde und im Deutschen falsch ist (fragen Sie Bastian Sick)? Und wussten Sie - damit sind besonders Herr und Frau Schweizer gemeint - dass man in aller Regel gar nicht "auf" den Zug, sondern "in" diesen geht (das kommt vielleicht aus dem Indischen)? Solche Dinge gelten nur als richtig, weil es eben alle so sagen, so dass man trotzdem versteht, was gemeint ist. Ist also nicht so tragisch. Das sind lediglich lockere, unterhaltsame Beispiele. Es gibt auch tiefgründigere. Traditionen haben ihre Tücken.

Eine Frage: Wie oft haben Sie schon "es tut mir leid" gesagt und genau das gemeint? Auch hier hat mir eine andere Sprache die Augen geöffnet. Auf Spanisch sagt man "Lo siento", was direkt übersetzt soviel heisst wie "Ich fühle es". Als ich das zum ersten Mal hörte, dachte ich: "Das ist ja stark. Sollte man auf Deutsch auch einführen. Nein, Moment mal - gibt es schon..!". Diese Wendung ist wie die meisten so abgedroschen, dass wir uns oft nicht mehr bewusst sind, was wir damit ausdrücken. Was die Wendung aussagen will, ist etwas, das erst so richtig zur Geltung kommt, wenn wir sie paraphrasieren (in anderen Worten ausdrücken) und so die eingefrorene Wendung "auftauen". Etwa so: "Hör mal, ich leide echt wegen dem, was ich getan habe." Wow. Das hat Kraft. Ein anderes Beispiel ist die Frage, auf die wohl die meisten gelogenen Antworten folgen: "Wie geht's dir?" (Vermutlich liegt die Frage in Tat und Wahrheit auf Rang 2, gleich nach "Haben Sie die Geschäftsbedingungen gelesen und akzeptiert?") Diese wörtliche Bedeutung ist schon etwas schwieriger zu entschlüsseln. Ich spüre eine dominante wirtschaftliche Note darin. Wie erfolgreich, wie effizient bist du in dem, was du anpackst? Das ist zumindest meine Ansicht. Dazu kommt die unsägliche Abgedroschenheit. Was wollen wir eigentlich wissen, wenn wir das fragen, und hört man das der Frage (noch) an? Ich halte es auch hier für sympathischer, wenn man paraphrasiert. "Wie fühlst du dich?", "Wie läuft dein Leben so?". Auf solche konkreten Fragen, die ehrliches Interesse suggerieren, kann man doch auch besser antworten, nicht? Der Dialog "Wie geht's dir?" - "Gut" hat wohl noch kaum jemandem wirklich etwas  gebracht, selbst wenn gute Absichten dahinter standen. Aber wenn's bei Ihnen klappt, dann will ich nichts dagegen sagen.

Seien Sie aber gewarnt: Die Sprachwissenschaft, die Linguistik, warnt vor den Gefahren der Abgedroschenheit, vor dem, was man halt so traditionell sagt. Bei der Sprechaktgestaltung zum Beispiel gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, Höflichkeit in eventuell Problematisches wie Bitten oder Kritik zu mischen. Und abgedroschene, eingefrorene Formulierungen wie "Entschuldigen Sie...", "Wären Sie so freundlich...", oder "Ich will ja nicht unhöflich sein, aber...", werden von Linguisten als "negative" Höflichkeit bezeichnet; sie seien ungeschickte, wenig gefühlvolle Versuche der Schonung des Gegenübers. Positive Höflichkeit, durch die am wenigsten Geschirr zerschlagen werde, erreiche man durch die individuelle Betonung der Sympathie für den anderen und die gute Beziehung zu ihm: "Du machst das wirklich gut, aber...", "Ich wäre dir sehr dankbar, wenn...", "Du weisst, ich mag dich sehr gern, aber...".

Eine bedenkliche "Tradition" ist auch das Verallgemeinern. Im argumentativen Sektor ist der Zusammenhang zwischen Sagen und Meinen besonders wichtig und oft nur teilweise vorhanden. Wir weichen beim Streiten regelmässig von der Realität ab, um unseren Äusserungen mehr Schlagkraft zu verleihen und den anderen einzuschüchtern, nur damit wir als Sieger aus der jeweiligen Auseinandersetzung hervorgehen. Besonders gern wird dabei verallgemeinert. Der andere mache etwa nie den Abwasch, müsse immer das letzte Wort haben und habe beim Eintreten mit seinen dreckigen Schuhen wieder einmal alles verschmutzt. So sagt man das eben im Affekt. Solche Aussagen entsprechen enorm selten der tatsächlichen Faktenlage, aber es würde halt einfach zu wenig überzeugend klingen, wenn man sich an die Fakten hielte. Da - die Vorzüge der linguistic awareness: Wenn man sich eingesteht, dass es vielleicht tatsächlich nicht "immer", "nie" oder "alles" ist, kann man daraus schliessen, dass der andere vielleicht gar nicht der niederträchtige Nichtsnutz ist, als den man ihn bezeichnet, und dass man nicht mehr das Ziel der Konfliktlösung, sondern das der Diffamierung des Gegenübers verfolgt.

Verallgemeinerung ist auch in anderen Zusammenhängen ein Thema, denn sie spart Zeit und kognitiven Aufwand. Die "Sprachökonomie" ist ein Phänomen, das Wörter und Sätze immer kürzer und knapper werden lässt. Kannten Sie etwa das "zipfsche Gesetz"? Dieses besagt: Je länger ein Wort ist und je öfter es verwendet wird, desto höher wird die Wahrscheinlichkeit, dass dafür eine Abkürzung eingeführt wird, ein Akronym oder ähnliches (passiert z.B. oft bei Schulfächern). Eine Berufsgruppe, die den Aufwand nicht scheut, ist die der Wissenschaftler: In ihren Artikeln wird z.B. in aller Regel viel Wert darauf gelegt, möglicherweise falsche Annahmen als solche zu kennzeichnen, selbst wenn man sich bei seinen Ergebnissen absolut sicher ist. Man nennt das "hedging": Es lässt die Möglichkeit für andere Meinungen und neue Forschungsergebnisse offen und zeigt Ehrlichkeit und Bescheidenheit. Aber in der Alltagssprache heisst's zumeist: Sprachökonomie über alles. Beispiel: Ich komme ins Wohnzimmer, mein Bruder hat die MTV-Top Ten laut aufgedreht. Ich verdrehe genervt die Augen und sage: "Das ist doch keine Musik mehr!". Irgendwann denke ich über diese Äusserung nach. 'Moment mal - das stimmt so nicht. Es ist leider eigentlich schon Musik. Und vielen gefällt's... Es muss sich um meine persönliche Meinung handeln. Hätte ich auch so sagen können.' Man hört solche Aussagen oft genug: "Dieses Essen schmeckt ja scheusslich!". "Dieser Film ist total langweilig!". "Deine Berufswahl ist völlig falsch!". Das Universum besteht nur zu einem ganz winzigen Teil aus einem selbst. Man sollte - pardon, ich finde, man könnte sich gelegentlich ruhig etwas respektvoller und bescheidener geben und Statements, die eigene Meinungen darstellen, auch im alltäglichen Gebrauch ab und zu als subjektive Ansichten bezeichnen, Aufwand hin oder her. Vielleicht bringt's ja was.

Es stellen sich, wie bereits bei der Einführung des Begriffs der linguistic awareness erwähnt, folgende Fragen: Wer wäre zu Verhaltensänderungen wie der letztgenannten bereit, und wären diese sinnvoll? Welche Ideen sind umsetzbar? Wo wäre es eine gute Idee, sich Mühe zu geben, bewusster zu kommunizieren, und der bequemen Alltagssprache den Kampf anzusagen? Geben Sie ihren Senf doch zwischen dem 13ten und 19ten Januar in der exemplarischen Umfrage in der rechten Spalte dazu. Auch Meinungen in den Kommentaren sind nicht verboten, wenn Sie Lust haben. So, dann können wir hier abbrechen, denke ich. Bis nächste Woche.

- Der Sprachbeschreiber

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